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24. Oktober 2025
Judith Belfkih

Neue Regeln für eine neue Freiheit

Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz zählt zu den einflussreichsten Denkern der Gegenwart. Der US-Ökonom skizziert in einer Wiener Vorlesung seinen „Weg zur Freiheit“, über den er ein gleichnamiges Buch verfasst hat. Ein Gespräch über die Folgen von Ungleichheit, die Gefahren von Monopolen und wie die USA sich gerade selbst sabotieren.

Wiener Vorlesung Neue Regeln für eine neue Freiheit 2025

Wir brauchen neue Regeln, um unsere Freiheit zu vergrößern. Mehr Einschränkungen für mehr Freiheit? Was an Joseph E. Stiglitz zentraler These auf den ersten Blick widersprüchlich klingt, erweist sich als ein überzeugendes Konzept, um die Polykrisen unserer Zeit zu bewältigen. Klimawandel, wirtschaftliche Instabilität, mediale Desinformation: Der renommierte US-Ökonom skizziert bei einer Wiener Vorlesung seine Ideen, wie eine gerechtere Welt auch ökonomische Stabilität bringen kann, ja das eine sogar Voraussetzung für das andere ist.

„Wir haben bestimmte Verhaltensweisen verinnerlicht, die für das Funktionieren einer Gesellschaft notwendig sind“, erläutert Joseph E. Stiglitz im Interview: „Doch die komplexen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts brauchen viel mehr davon als die vor 2.000 Jahren.“ Doch es geht Stiglitz in unserer überregulierten Welt nicht einfach darum, neue Einschränkungen zu setzen, sondern sie neu zu denken und zu verschieben – auch auf globaler Ebene.

Regeln nur für die reichen Länder
„Das Problem liegt in den Regeln zwischen reichen und armen Ländern – die zum Vorteil der reichen geschrieben sind. Das hat Folgen. Etwa in der Pandemie: Da haben Pharmaunternehmen im Norden Gewinne behalten, es herrschte Impfstoff-Apartheid, Menschen starben. Oder in den Entwicklungsländern: Da gab es Handelsregeln, die sie davon abhielten, Primärprodukte zu produzieren, um koloniale Handelsmuster aufrechtzuerhalten. Was wir dabei nicht bedacht haben: Wir hatten kein wirklich regelbasiertes System, da nur die armen Länder die Regeln befolgen mussten. Die reichen Länder, vor allem die USA, entschieden selbst, wann es ihnen unbequem war, die Regeln zu befolgen – oder auch nicht.“ In der jüngeren Vergangenheit haben die USA selbst dieses System gesprengt: „Donald Trump behauptet, es gäbe gar keine Regeln. Wir haben uns dem Gesetz des Dschungels zugewandt. Das ist mitunter schlimmer als ein schlechtes regelbasiertes System.“

Ungleichheit als ökologisches System
Die Ungleichheit, die durch das langjährige System entstanden ist, ist nicht nur ein moralisches Problem, so die Analyse von Stiglitz, es ist auch wirtschaftlich ineffizient: „Das hat mit der Art zu tun, wie Ungleichheit entsteht. Wenn sie etwa durch Monopole entsteht, verzerrt das die Ressourcen. Großen Teilen der Bevölkerung wird dann der Zugang zu Ressourcen verwehrt, die es ihnen ermöglichen würden, ihr Potenzial auszuschöpfen. Es wird also ein wichtiges Gut verschwendet.“

Dieser Mechanismus richtet auf globaler und nationaler Ebene Schaden an: „Das liegt zum Teil daran, dass Ungleichheit die Hoffnungen der Menschen am unteren Ende der Gesellschaft untergräbt. Ironischerweise führt das zu einem Anspruchsdenken derjenigen an der Spitze. Sie denken, dass sie weniger arbeiten müssen. Ungleichheit schafft also sowohl an der Basis als auch an der Spitze soziale Probleme.“

Neue Einschränkungen für mehr Freiheit
In seinem Buch, „Der Weg zur Freiheit“ kritisieren Stiglitz, dass Freiheit von neoliberalen Kräften in einer Art Geiselhaft gehalten wird. Er setzt sich folglich dafür ein, Freiheit neu zu denken: „Die Vorstellung, wir würden in einer vernetzten Welt leben, in der es absolute Freiheiten gäbe, ist absurd. Freiheit ist eine Frage der Wahlmöglichkeiten – die haben viele Menschen nicht.“

Wie sich das ändern ließe? „Da können einfache Regelungen für wenige die Freiheit aller erhöhen. Die Regulierung von Unternehmen zum Beispiel, die die Umwelt verschmutzen, gibt Asthmatikern mehr Freiheit, die vielleicht wegen ihres Asthmas das Bett hüten müssen. Sie hätten die Freiheit aufzustehen, wenn man die Verschmutzung stoppt. Man sieht es auch am Beispiel der Verkehrsampel. Das rote Licht zeigt an, dass man nicht weiterfahren kann. Es nimmt einem also die Freiheit. Aber wenn es in einer Stadt gar keine Ampel gibt, kann sich überhaupt niemand bewegen. Wir können also mit einfachen Regeln die Freiheit aller erhöhen. Wir müssen nur klar entscheiden, was wichtiger ist.“

Freiheit durch Zerschlagung von Monopolen
Der zentrale Schlüssel für diese Rückeroberung der Freiheit, liegt für den Ökonomen in der Zerschlagung von Monopolen – in mehreren Bereichen: „Derzeit gibt es drei große Gefahren. Wenn wir die Umwelt nicht regulieren, bedeutet das einen Klimawandel, der existenziell ist. Ohne Regulierung des Wettbewerbs entstehen Monopole. Und ohne Regulierung der Sozialen Medien entsteht eine polarisierte Gesellschaft mit einem verunreinigten Informationsökosystem. Das wiederum führt zu sozialer Erosion.“

Ist die Wirtschaft der Schlüssel, um alle drei Problemfelder zu lösen? „Ja, jedoch nicht der einzige. Aber offensichtlich hätten wir in einigen Bereichen keine Monopolstellung, wenn wir eine gute Wirtschaftsregulierung hätten. Wenn wir eine effiziente Kontrolle der Umweltverschmutzung hätten, würden wir uns nicht so viele Sorgen um den Klimawandel machen. Bei der Regulierung des Informationsökosystems ist es ähnlich.“

Reichhaltiges Ökosystem der Institutionen
Um hier zu neuen Strukturen zu kommen, ist die Politik gefordert, aber nicht nur, erläutert der 82-Jährige: „Es geht um ein reichhaltiges Ökosystem der Institutionen. Da braucht es einen Mix aus NGOs, der Zivilgesellschaft, dem Staat. Aber auch kollektives Handeln in verschiedenen Formen – von staatlicher Regulierung bis zu direkter Demokratie.“ Vielfalt statt Monopolisierung also auch in Sachen Machtverteilung.

Joseph E. Stiglitz hat in seiner Arbeit immer wieder das Scheitern der Globalisierung angeprangert. Sieht er einen Weg, global zu einer gerechteren Weltordnung zu finden? „Es wird ein anderes Regelwerk geben. Internationaler Handel ist absolut sinnvoll, aber nicht auf die alte Art und Weise. Wir werden in einer Welt mit klaren Regeln landen – aber womöglich ohne die USA. Der Rest der Welt sagt, wenn die USA ein Schurkenstaat wie Nordkorea sein wollen, können wir die Welt um diese ein, zwei oder drei Spieler herum organisieren. Die sind lästig, das ist schlecht für sie, das ist schlecht für die Welt. Aber sie leiden mehr als wir.“

Donald Trump als Weckruf für Europa
Eine derartig globale Neuorganisation braucht viel Zeit. Haben wir die denn? „Für mich ist Donald Trump ein Weckruf, dass wir mit den aktuellen Regeln nicht weiterkommen. Bisher hat die Europäische Kommission nicht die nötige Führungsrolle übernommen, die dieser Dringlichkeit angemessen wäre. Als Europa in Schottland bei den Zöllen vor Trump kapitulierte, lag es nicht am Handel. Da ist Europa größer oder zumindest genauso wichtig. Der Grund ist die Abhängigkeit Europas von den USA in der Verteidigung. Es dringend notwendig, zuerst in dieser Hinsicht autonomer zu werden, bevor es ökonomisch funktionieren kann.“

Was das alles für die USA bedeutet? „Es besteht eine begründete Wahrscheinlichkeit, dass die Vereinigten Staaten zu einem faschistischen Staat werden. Europa hat das noch nicht vollends begriffen, dass die USA kein verlässlicher Partner mehr sind. Es liegt an Europa, diese neue Ordnung voranzutreiben. Denn hier gibt es noch Wahlmöglichkeiten, die wir in den USA möglicherweise nicht mehr haben. Darin sollte Europa seine Chance erkennen.“

Informationen zur Veranstaltung:
Wiener Vorlesung, 23.10.2025